Cover
Titel
Das 15. Jahrhundert.


Herausgeber
Günter, Frank; Fuchs, Franz; Herweg, Mathias
Reihe
Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten (15)
Erschienen
Stuttgart 2021: Frommann-Holzboog
Anzahl Seiten
560 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Daniels, Mittelalterliche Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das 15. Jahrhundert fristete in der deutschen Geschichtswissenschaft lange ein Schattendasein in der Forschung; fernab von den großen Weichenstellungen des Frühmittelalters, nicht mehr in der herrschaftlichen Blüte des Hochmittelalters stehend, gleichsam der letzte Akt einer ausgehenden Zeit; noch nicht in der weiten Welt der Neuzeit – so galt lange Zeit die unbequeme Definition des Spätmittelalters, zumal des 15. Jahrhunderts, das auf der anderen Seite auch als Morgendämmerung von Renaissance und Früher Neuzeit verstanden werden konnte – zwischen Huizinga und Burckhardt. Ein langer Weg hat die Wissenschaft des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts dahin geführt, solche Meistererzählungen zu dekonstruieren und zugleich Epochalisierungen und ihre Binnengliederungen nachdrücklich in Frage zu stellen. Dennoch sind sie in Forschung, Lehre und öffentlicher Meinung weiterhin präsent, inhaltlich und universitätsorganisatorisch; es lohnt sich daher, sie mit kritischen Reflexionen in Großkonzeptionen wie in Detailstudien immer neu zu hinterfragen und auf Dekonstruktion auch wieder Konstruktion folgen zu lassen. Hinlänglich bekannt ist nämlich auf der anderen Seite, dass Geschichte, ihre Erfahrung, das Wissen um sie und ihre Darstellung Orientierungspunkte erfordern und anbieten, und diese können sich bekanntlich unterscheiden, je nachdem, welche Parameter gewählt werden. In dieser letztlich unauflösbaren Spannung der Sache und des Metiers liegt ein Reiz der Geschichte und der Beschäftigung mit ihr, auch wenn nun – nach den letzten größeren Entwürfen à la Heimpel und Meuthen – aufs Neue danach gefragt wird, was eigentlich das 15. Jahrhundert ausgemacht habe. Erschienen in den Melanchthon-Schriften, zurückgehend auf eine Jubiläumstagung zum Jahr 1517, plädiert der Band – in einer einführenden Verortung durch Mathias Herweg – für ein (evident kirchenpolitisch definiertes) langes 15. Jahrhundert, 1378 bis 1517, als eine Epoche sui generis, „von einer kaum absehbaren Vielfalt, ja Gegensätzlichkeit“ (S. 11).

Der gewichtige Band versammelt einen bunten Strauß an Studien aus der Feder ausgewiesener Expertinnen und Experten, die entweder mit der Lupe oder aus dem Helikopter Europa, vor allem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation betrachten, und dies unter einer vorwiegend historisch-literarisch-theologisch-künstlerischen Perspektive (andere Blickpunkte, wie etwa die Wirtschaft oder weiträumige Verflechtungen, stehen eher am Rande).

Sektion 1 wählt den historisch-historiographischen Zugang: Franz Fuchs beginnt mit der oft negativen Beurteilung Kaiser Friedrichs III., die im 19. Jahrhundert von der bekannten „Erzschlafmütze“ bis hin zu der Bezeichnung „ekelhaft“ (Grillparzer) reichte; die häufigen Negativurteile des 15. Jahrhunderts assoziiert er mit den seit der Stauferzeit verbreiteten Prophezeiungen eines nahenden endzeitlichen Friedenskaisers dieses Namens mit der Ordnungszahl drei und kontrastiert sie mit einer neuen Beurteilung von Friedrich als „Herrscher der Superlative“ (S. 19); – Gabriele Annas deutet den Vorwurf des ewigen Vertagens bei den Reichsversammlungen um: nicht Prokrastination, sondern Schaffung von Kontinuität und Ordnung durch permanente Aushandlungsprozesse und Selbstkonstitution des Reichs seien darin zu sehen; – Daniel Luger widmet sich den frühen Humanistenkreisen um den Habsburger und zeigt, dass diese sich gleich zu Beginn seiner Regierungszeit ausbildeten; – Achim Thomas Hack verschiebt die Perspektive von der terrestrischen zur aquatischen (d.h. maritimen und fluvialen) Herrschaftspraxis im 15. Jahrhundert und illustriert dies am detaillierten Bericht des Nikolaus Lankmann über die Meerfahrten der Gemahlin Friedrichs III., Eleonore von Portugal, von Lissabon nach Livorno und von Manfredonia nach Venedig 1451/52; – Christof Paulus beleuchtet in einem quellengesättigten Beitrag die wittelsbachisch-habsburgischen Beziehungen in Gestalt des „argwöhnischen“ (S. 106) Verhältnisses zwischen Friedrich III. und seinem Schwiegersohn Albrecht IV. und ediert dazu eine Chronik eines Ingolstädter Juristen von 1504 (Friedrich III. ist darin immerhin „vast ain fridsamer, gutiger, guter vernunft unnd gotsforchtiger furst gewesen“, S. 150f.); – Joachim Schneider untersucht die speziellen Bedingungen für Entstehung von Geschichtsschreibung an Höfen und Städten des Reiches, deren besondere Pluralität er im europäischen Vergleich als „absolute Ausnahmeerscheinung“ (S. 171) charakterisiert; – Chantal Camenisch analysiert die klimatischen und demographischen Bedingungen und Entwicklungen mit kalten Wintern am Beginn und sehr nassen Sommern in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts (im Zusammenhang mit dem Ausbruch des südpazifischen Vulkans Kuwae), das Auftreten von Maikäferplagen, einen zeitweiligen An-, gefolgt von einem Abstieg der Getreidepreise, und konstatiert einen eher geringen demographischen Druck – also keine durchgängige Krisenzeit!

Literarische Aspekte werden in der zweiten Sektion behandelt: In einem instruktiven Beitrag lotet Jan-Hendryk de Boer den Dialog als bevorzugte Gattung der Humanisten aus, nicht nur mit Blick auf das neue Verständnis des Genres seit dem 14. Jahrhundert, sondern auch, in Anlehnung an Niklas Luhmann und Elena Esposito, als Sinnfindungsmechanismus durch „Realitätsverdoppelungen“ (S. 205), mit einer deutlichen Entwicklungslinie vom Beginn zum Ende des 15. Jahrhunderts hin; – Gunter Frank stellt das Innovative im Europa-Konzept des Enea Silvio Piccolomini angesichts der auf dem Kontinent gefühlten Bedrohung durch die Osmanen nach 1453 heraus: eine Neubelebung politischen Gehalts; – Joachim Hamm analysiert das fluide Konzept der Autorschaft anhand von Sebastian Brants Narrenschiff und seiner produktiven Übersetzung ins Lateinische durch Jakob Locher, die dem Werk erst den europäischen Erfolg bescherte; – Dirk Werle liefert eine Detailstudie zu dem Heidelberger Frühhumanisten Adam Werner von Themar, dessen poetisches Werk (unter anderem mit einem Lobgedicht auf Johannes Gutenberg) vielfältige Rückschlüsse auf seine Netzwerke und die Buchkultur der Zeit erlaubt, und er gibt den wichtigen Hinweis, dass die „Erfindung“ des Buchdrucks eine nicht schlagartige, sondern langfristige Veränderung der intellektuellen Kultur nach sich zog; – Werner Williams-Krapp analysiert die drastische Ausweitung der Laienalphabetisierung und die Konsequenzen für die Nachfrage nach volkssprachlicher Literatur (hier vor allem Predigten und Hagiographie).

In Sektion 3 nimmt Berndt Hamm den Faden in einem eindringlichen Plädoyer für eine besondere theologische Dynamik des Jahrhunderts auf, das sich dezidiert gegen die Erstarrungs- und Verfallsmetaphern wendet und ihnen – im Fahrwasser von Heiko Oberman – die These einer besonderen Breiten- und Tiefenwirkung der Theologie in die Welt der Laien entgegenhält. Wie „vorher keine andere Ära der Christentumsgeschichte“ (S. 325), sei diese gekennzeichnet von Pluralität der Frömmigkeitsformen, einem pastoralem Schub sowie einer Transgression und Transformation der scholastischen Theologie – nicht im Sinne von „Säkularisierung“, sondern „als Verquickung von Weltlichkeit mit gesteigerten religiösen Ansprüchen“ (S. 372); – Ulrich Köpf beschäftigt sich anschließend mit den intensiven Praxen der Theologie in Klöstern und bei den Humanisten; – Reinhold Rieger stellt Funktionen der theologischen Hermeneutik unter den Bedingungen von Schisma und kirchlicher Krise sowie herrschaftlicher Nutzbarmachung und Konzentration auf den Literalsinn dar; – für den letztgenannten Aspekt fundamental ist der akademische Richtungsstreit zwischen der universalrealistischen via antiqua und der nominalistischen (also auf die Empirie abzielende) via moderna, und hier setzt die erfrischend provokative These von Ueli Zahnd an, der das Konzept des Nominalismus (als Bewegung und Vorbedingung der Reformation) in Frage stellt und es als Produkt späterer wissenschaftlicher Zuschreibungen ansieht; – Maarten J. F. M. Hoenen zeigt die Anwendungsfelder der Scholastik, v.a. der Logik, auch außerhalb der Universitäten in jener Zeit auf; Mikhail Khorkov nimmt das cusanische Konzept der gelehrten Unwissenheit für das Theologieverständnis der Kartäuser in den Blick und stellt die These auf, dieses sei als Vorbereitung seiner Legationsreise zu verstehen.

Die abschließende Sektion 4 vereint einen musikhistorischen Beitrag von Hyun-Ah Kim zur neuen Verbindung von Musik und Redekunst am Beispiel des Lodesers Franchinus Gaffurius, im Hinblick auf das ciceronianische decorum, mit einem kunsthistorischen von Alexandra Carmen Axtmann zu reziproken Einflüssen von Druckgraphik und Malerei – bzw. der „medialen Collage“ (S. 526) und der neuen Wertschätzung von Handzeichnungen, illustriert an Handschriften aus St. Georgen im Schwarzwald.

Will eine Synthese angesichts der gebotenen Vielfalt und Gegensätzlichkeit gelingen? Versucht man, einige Leitlinien herauszufiltern, so scheint Sektion 1 die berühmte Moraw’sche „Verdichtung“ zu bestätigen, in Sektion 2 stechen neue literarische Vehikel und politische Selbstverortungen heraus, in Sektion 3 die bedeutende Ausweitung der (vor allem auch: volkssprachlichen) Schriftlichkeit sowie die intellektuelle Pluralisierung, hier und in Sektion 4 auch die Medialisierung mit ihren Auswirkungen (wiewohl in langsamen Rhythmen). Vor allem aber wollen die Beiträge – wie mir scheint – aufzeigen, dass die traditionell negative deutsche Sicht auf das 15. Jahrhundert und das lange Desinteresse an ihm faktisch unbegründet sind, dass diese Sicht aber auch nicht einfach durch ein positives Fortschritts- und Modernisierungsnarrativ zu ersetzen ist. Ob es mit Blick auf die obigen Erwägungen sinnstiftend ist, einheitliche Epochensignaturen auszugeben, scheint mir der Band (für den Bereich, dem er sich widmet) letztlich mit Recht in Zweifel zu ziehen. In jedem Fall liefert er ein thesenreiches und starkes Plädoyer dafür, dass es sich lohnt, sich mit dem hier untersuchten Zeitraum zu beschäftigen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter sollte man dabei wohl einfach Jahreszeiten sein lassen.

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